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Eine merkwürdige Sache :

Sein oder nicht sein oder: Wer bin ich, wenn ich nicht ich bin?


Eckernförde, Peter Sparr



Schwanensee auf hoher See – der Seekasse sei Dank.


Wenn nicht Unvorhergesehenes dazwischen kommt, werde ich am 13. Oktober 65 Jahre alt. Zufriedenes Zurücklehnen, Zeit für ein objektives Resümee? Mitnichten! Denn nach all den Jahren im Kreise meiner Spezies kommen mir Zweifel an meiner persönlichen Existenz. Ganz einfach deswegen, weil die, die es eigentlich am besten wissen müssten, auch zweifeln.



Warum sonst würde meine Rentenkasse zu diesem Jubiläum einen Geburtsnachweis verlangen? Bin ich wirklich der, für den ich mich die ganze Zeit meines Daseins gehalten habe?

Ich gebe zu, dass ich oft ein anderer hätte sein wollen. Besonders nach der nach Kriegsende begonnenen Schulkarriere. Die so unselig mit Kanonendonner und Dauerbeschuss durch Eltern und Lehrer endete wie sie begonnen hatte. Die einzige Rettung mit diesem Abschlusszeugnis zur damaligen Zeit verhieß mit 14 Jahren im März 1953 ein Sprung in das morsche Rettungsboot eines weit weg fahrenden Kohlensteamers. Landleben ade.

Nach dem Untergang aller bis dahin erworbenen für die christliche Seefahrt untauglichen Schul- und Lebenskenntnisse, ging es mit mir stetig aufwärts. Ich kletterte die Karriereleiter bis zum Kapitän und danach die Lotsenleiter nach oben. Nach 38 Jahren Fahrzeit, Seefahrt ist Not, musste ich mit 52 Jahren 1991 aus gesundheitlichen Gründe meine Lotsenbestallung zurückgeben, seit der Zeit bekomme ich von der Seekasse eine Rente.

Am 13. Oktober 2003, 50 Jahre nach Berufsbeginn, soll jetzt diese Rente in eine Regelaltersrente umgewandelt werden. Nach 38 Jahren brav entrichteter Beiträge und ebenso brav in 12 Jahren empfangener Rente, soll ich nun meiner Seekasse zu diesem denkwürdigen Anlass einen Geburtsnachweis erbringen!

„To be or not to be!“ Das ist hier die Frage!

Und auf einem beigefügten Fragebogen sind 16 essentielle Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten.

Frage 11 forscht z.B. nach berufsbezogenen Zuwendungen an Ballettmitglieder im Beitragsgebiet. Beitragsgebiete waren für mich immer die schwankenden Planken meines jeweiligen Schiffes.

Mich darauf im Sturm aufrecht zu halten, muss dem schifffahrtsunkundigen Gesetzgeber allerdings wie Ballett vorgekommen sein. Hacke-Spitze – eins, zwei, drei.

Schwanensee auf hoher See. Wie hieß doch gleich der Skipper meines ersten Schiffes? War es Nurejev?

Wir haben ihn so genannt, weil er morgens in den Tropen immer so abartig komisch wirkende Ausfallschritte mit Haltfest an der Backbord-Reling geprobt hat.

Kann mich noch gut an seine grüne, stark ausgebeulte Trainingshose erinnern. Und an sein schmerzverzerrtes Gesicht nach missglücktem Spagat in gelben Gummistiefeln in der Biscaya bei Flaute.

Jeder Seemann ein Artist, und wenns auch nur ein kleiner ist.

Von Nurejev weiß man, dass er geboren wurde. War mein Auf-die-Welt-Kommen nicht der Beweis, dass ich geboren wurde? Meine Mutter hieß nicht Maria, sondern Erna.

Gibt es noch andere dunkle Kanäle, diese schöne Welt zu betreten? Warum sagt man zu manchen Menschen: „Dich hat der Esel im Galopp verloren?“ Erklärt das mein Faible für diese Grautiere? Kann mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass ich als Baby nicht vertauscht wurde? Bin ich wirklich der, der ich bin?

Bitte liebe Seekasse, bitte forschen Sie unbedingt in allen ihren Räumen nach, ob es dort jemanden Vergessenen gibt, der sich an mich oder mein Aktenzeichen erinnern kann. Bis zur Klärung bin ich mir nicht sicher, ob ich oder der, für den ich mich halte, noch 65 Jahre alt werden will. Wo doch gerade jetzt per Gesetz, zwar mit leichten Einbußen und Nullrunden, auch für Rentner ein Tänzchen, a la bonne heure, zu Weihnachten in der Öffentlichkeit erlaubt sein soll.

Doch Showeinlagen an „Stillen Feiertagen“, etwa am Totensonntag im Golf von Bengalen, bleiben, mein lieber Master Nurejev, weiterhin untersagt. Sicherlich können die heutigen Männer auf See noch viel Gutes von der rührigen Rühr-Um-Kommission erwarten.

Ich fühle auch mit dienstwilligen Staatsdienern, die wegen des täglichen Umganges mit Seekrankheit im Büro erzeugenden Fragen frühzeitig die Segel streichen. Wir, die brave Crew, haben schon damals immer Unheil vorausgeahnt, wenn unser Führer mit seinen abartigen Verrenkungen die Götter geradezu herausgefordert hat.

Die Würde des Menschen ist ohne Geburtsnachweis antastbar. Aloa.



Erschienen in der Eckernförder Zeitung am 23.09.2003